So werden Sie ein alpha-intelligenter Leader
Führungskräfte benötigen ein neues Selbstverständnis und neue «Intelligenzen», um in unserer von rascher Veränderung geprägten Welt noch die gewünschte Wirkung zu entfalten. Davon ist Barbara Liebermeister, die Autorin des Buchs «Führen mit Alpha Intelligence: Startklar für die Arbeitswelt der Zukunft», überzeugt. Hier sagt sie uns, wie das geht.
The Business Class Magazin – Frau Liebermeister, warum schrieben Sie Ihr Alpha-Intelligenz-Buch
Barbara Liebermeister – Seit vielen Jahren begleite ich mit meinem Team Führungskräfte und Organisationen durch die Herausforderungen des digitalen Wandels und seit der Corona-Krise, die die virtuelle und hybride Zusammenarbeit stark puschte, fiel mir immer stärker auf: Viele Führungskräfte sind noch der festen Überzeugung, ihre Teams auch unter den veränderten Rahmenbedingungen gut zu führen. Zugleich wundern sie sich jedoch, dass die Motivation ihrer Mitarbeitenden sinkt und diese zwischen Überforderung und innerer Kündigung hin und her pendeln. Ich spürte immer deutlicher: Die bisherigen Werkzeuge und Modelle im Führungsbereich greifen nicht mehr. Sie passen nicht mehr zur neuen, von Dynamik, Unsicherheit und Widersprüchlichkeit geprägten Realität. Dies belegten auch mehrere Studien, die mein Institut mit Hochschulen durchführte.
Ihr Institut – das IFIDZ also?
Ja. Parallel dazu absolvierte ich einen Master in Neurowissenschaften und tauchte tief in die Frage ein, wie sich die digitalen Medien und neuen Formen der Zusammenarbeit auf unser Denken, Fühlen und Handeln auswirken. Dabei wurde mir klar: Der Mensch – bzw. sein Gehirn – ist für die zunehmend virtuelle bzw. hybride Zusammenarbeit und Kommunikation nicht gemacht. Diese ist jedoch Realität. Also sollte wir sie nicht nur akzeptieren, sondern gezielt gestalten. Deshalb beschloss ich das Alpha-Intelligence-Buch zu schreiben, das meine Erfahrungen und Beobachtungen sowie die Erkenntnisse der IFIDZ-Leadership-Studien systematisiert und in ein neues Führungsmodell überführt, denn ich bin felsenfest überzeugt: Wenn Führung zukunftsfähig bleiben soll, müssen wir sie neu denken.

Was bedeutet der Begriff «Alpha Intelligence»?
Er steht für ein neues, dynamisches Führungsverständnis, das
- den Anforderungen in einer zunehmend komplexen, hybriden und technologiegetriebenen Welt entspricht und
- fünf Intelligenzen umfasst, die aufgrund des immer schneller sich vollziehenden Wandels heute essenziell sind, um wirksam zu führen.
Würden Sie dies bitte näher erläutern?
Nun, die traditionellen Führungsmodelle basieren in der Regel auf statischen Kompetenzen – wie etwa Kommunikationsfähigkeit, Konfliktmanagement oder Zielorientierung. Beim Alpha Intelligence Modell hingegen geht es, um das Entwickeln dynamischer Fähigkeiten, die auf Haltung, Reflexionsfähigkeit und situativer Anpassung beruhen.
Welche sind das?
Im Kern umfasst Alpha Intelligence folgende fünf Dimensionen:
- Alpha Personality (Persönlichkeitsintelligenz): die Fähigkeit zur Selbstführung, Selbstwahrnehmung und persönlichen Klarheit.
- Alpha Relations (Beziehungsintelligenz): Menschen verbinden, Sicherheit geben, Signifikanz stiften.
- Alpha Digitality (Digitalintelligenz): digitale Souveränität; Technologie verstehen, gestalten und bewusst einsetzen.
- Alpha Resilience (stabilisierende Intelligenz): innere Stabilität, um mit Krisen und Widersprüchen produktiv umzugehen.
- Alpha Synergy (Cyborg Intelligence): die Fähigkeit, Mensch und Maschine neu zu denken, nicht als Gegensätze, sondern sich ergänzende Kräfte.

Was verstehen Sie unter «Cyborg Intelligence»?
Bei dieser integrativen Intelligenz geht es unter anderem um den adäquaten Umgang mit solchen Themen wie KI und Automatisierung: Wer führt, muss heute nicht nur digitale Tools bedienen können, sondern auch verstehen, wann der Mensch gebraucht wird – mit seiner Empathie, Ethik und Entscheidungsfähigkeit – und wo Maschinen ihn unterstützen dürfen. Alpha Intelligence ist somit mehr als ein Führungsmodell. Es ist der Reflexionsrahmen für eine Haltung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, ohne die Chancen der Technologie zu verlieren. Das erfordert auch einen Ausbau der Fähigkeit, mit Unsicherheit, Komplexität und Widersprüchen umzugehen – also der Faktoren, die die traditionellen Führungsmodelle oft ausklammern.
Welche Eigenschaften zeichnen eine alpha-intelligente Führungskraft aus?
Alpha-intelligente Führungskräfte denken und gestalten Führung und Zusammenarbeit neu. Sie
- führen sich selbst, bevor sie andere führen, und
- suchen nicht nach einer neuen Methode, sondern nach Sinn, Substanz und Wirkung.
Daraus resultieren eine spürbare innere Klarheit und eine Haltung, die inspiriert – auch weil sie eine Perspektive aufzeigt. Alpha Intelligence zeigt sich in Ambiguitätstoleranz, echter Beziehungskompetenz, digitaler Souveränität und der Fähigkeit, aus der Vielfalt eine kollektive Stärke zu entwickeln. Es geht nicht um eine perfekte, sondern eine bewusste, menschliche Führung und eine Haltung, die auch in unsicheren Zeiten Orientierung schafft, ohne Kontrolle auszuüben.
«Wir müssen Führung neu denken. Führung muss menschlicher und nahbarer werden.»
Barbara Liebermeister leitet das Institut für Führungskultur im digitalen Zeitalter (IFIDZ), Wiesbaden und ist auch Autorin.
Was bedeutet dies konkret für die Führungsrolle?
Führung wird paradoxerweise menschlicher, nahbarer. Je mehr wir digitalisieren und dezentral arbeiten, desto mehr bedarf es einer Führung, die emotionale Sicherheit, Sinn und Orientierung vermittelt. Zudem müssen Führungskräfte heute akzeptieren, dass sie nicht mehr alles wissen und steuern können. Sie müssen lernen, Räume zu gestalten, in denen andere Verantwortung übernehmen können. Das verlangt von ihnen ein verändertes Selbstbild: weniger Macher, mehr Ermöglicher. Für viele Führungskräfte ist dies eine echte innere Transformation.
Welche Rolle spielen dabei solche Faktoren wie emotionale Intelligenz, Empathie und Selbstführung?
Sie sind die Basis. Ohne Selbstführung gibt es keine echte Führung. Und ohne emotionale Intelligenz keine tragfähigen Verbindungen – gerade in digitalen Kontexten, in denen Führungskräfte nicht mehr im selben Maße auf die nonverbale Resonanz und das Wahrnehmen von Zwischentönen zählen können wie im persönlichen Kontakt. Umso bewusster müssen sie sich darin schulen, Empathie und emotionale Klarheit einzubringen – auch über Distanzen. Technik darf Verbindung nicht ersetzen. Führung muss Verbindung gestalten und sich mit solchen Themen wie Sinn und Werteorientierung befassen.
Warum?
Sinn und Werteorientierung sind heute kein Nice-to-have mehr – sie sind der Kern zukunftsfähiger Führung. Denn sie sind genau das, was uns Menschen von anderen Lebewesen – und Maschinen – unterscheidet. In einer hochgradig vernetzten, schnelllebigen Welt wächst das menschliche Bedürfnis nach Sinn, Werten und Tiefgründigkeit. Das bestätigen auch unsere Forschungen. Wenn Organisationen das ihren Mitarbeitenden nicht bieten, verlieren sie nicht nur ihre besten Köpfe. Diese Werteorientierung muss sich jedoch im alltäglichen Miteinander im Betrieb zeigen: in der Art, wie geführt wird, wie Entscheidungen getroffen werden, wie Konflikte ausgetragen werden.

Was sind die größten Hindernisse beim Etablieren von Alpha Intelligence in der Führungskultur von Unternehmen?
Das größte Hindernis ist meist die Trägheit im System. Viele Unternehmen haben noch Strukturen, Prozesse und Anreizsysteme, die Kontrolle und Planbarkeit belohnen – und nicht Selbstverantwortung und flexibles Denken. Zudem bedarf es eines Kulturwandels auf der Führungsebene selbst. Führungskräfte, die keine Bereitschaft zur eigenen inneren Entwicklung zeigen, stoßen schnell an ihre Grenzen. Kurz gesagt: Es scheitert nicht am fehlenden Wissen, sondern am fehlenden Wollen und Raum zur Entwicklung; außerdem am fehlenden Durchhaltevermögen und daran, dass zu schnell, tiefgreifende Veränderungen erwartet werden. Die Entwicklung von Alpha Intelligence erfordert Zeit und Geduld.
Wie kann man Alpha Intelligence konkret entwickeln: als Einzelperson und im Team?
Die Entwicklung beginnt stets bei sich selbst: Sich selbst analysieren und sich besser kennen und verstehen lernen. Dazu gehört, die eigenen Trigger, Denk- und Verhaltensmuster zu reflektieren. Ähnlich wie Leistungssportler: Diese analysieren im Vorfeld von Wettkämpfen auch, was sie tun sollten, um die bestmögliche Leistung zu erbringen. Auf der Teamebene gilt es, Räume zu schaffen für Reflexion, Austausch und kollektive Lernprozesse. Alpha Intelligence entwickelt sich im gemeinsamen Erleben und Gestalten. Deshalb arbeite ich viel mit sogenannten Reflexionsräumen, in denen Teams lernen, Ambivalenzen auszuhalten, Vertrauen aufzubauen und gemeinsam Lösungen für komplexe Herausforderungen zu entwickeln.
Noch eine persönliche Frage: Was ist für Sie der Sinn des Lebens?
Für mich ist der Sinn des Lebens, sich selbst immer wieder neu zu entdecken und dabei anderen Räume für Wachstum und Entfaltung zu eröffnen. Ich empfinde große Freude daran, Menschen in ihrer Entwicklung zu begleiten und dabei selbst zu lernen, wie wir in dieser komplexen Welt menschlicher und bewusster miteinander umgehen können. Wenn ich am Ende sagen kann: Ich habe etwas bewegt – im Kleinen wie im Großen – dann war es mein Leben sinnvoll.